Lernen im eigenen Tempo - Unsere Idee einer zeitgemäßen Pädagogik

Die Welt befindet sich im stetigen Wandel. Digitalisierung und Globalisierung macht auch vor Schule nicht halt, gesellschaftliche Umwälzungseffekte stellen uns alle vor ganz neue Herausforderungen. Dem entgegen steht ein Jahrhunderte altes, scheinbar reformimmunes Schulsystem, welches den Herausforderungen unserer Zeit immer weniger gerecht wird. Jugendliche Sozialisation und eine veränderte Arbeitswelt („Industrie 4.0“) werfen immer neue Fragen auf, zu deren Beantwortung die Institution Schule nicht mehr in der Lage ist. Diese Erkenntnis verwundert umso mehr, als dass uns die empirische Bildungsforschung der letzten Jahrzehnte gute Ansätze liefert, wie Schule verändert und Lernen gedacht werden muss, um die Herausforderungen unserer Zeit meistern zu können.
Mit dem Blick auf eben jene Herausforderungen unserer Zeit und inspiriert durch die Arbeit anderer Vorbildschulen haben wir uns an der Erich Kästner-Schule (IGS) in Darmstadt dazu entschieden, Lernen und Schule neu zu denken. Das dabei entstandene Konzept des „Lernens im eigenen Tempo“ läuft derweilen bereits seit dem Schuljahr 2021/22 und erfreut sich großer Beliebtheit.

Der Raum als dritter Pädagoge

Im Rahmen der Neuausrichtung unseres Lernkonzeptes stellte sich bereits früh die Frage, wie man die Räume unserer Schule bestmöglich nutzen könnte, um den verschiedenen Bedürfnissen unserer sehr heterogenen Schülerschaft gerecht werden zu können. Das Durchspielen unterschiedlicher Lernszenarien und Unterrichtskonzepte führte bei uns dabei schnell zu der Erkenntnis, dass die klassische Organisationsform der Schulklassen ein sehr starres Konzept darstellt und sich für die Entwicklung eines individualisierten Lernkonzeptes kaum eignet. In einem Klassenraum ist eine Lehrkraft zumeist alleine mit 25 (oder mehr) Schüler*innen, muss dabei Inhalte erklären, Fragen beantworten, mal für ein ruhiges, mal für ein angeregtes Arbeitsklima sorgen, bei Einzel- und Gruppenarbeiten unterstützen, Konflikte klären und gleichzeitig ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Schüler*innen haben. Selbst den besten Lehrkräften ist es dabei nicht möglich, allen Lernenden zu jeder Zeit ein Angebot nach deren ganz individuellen Lernbedürfnissen zu machen. In unseren Überlegungen galt es, diese nachteilige Konstellation und die damit einhergehende Überforderung der Lehrkraft aufzulösen und gleichzeitig bedürfnisorientierte Angebote für alle Schüler*innen unserer Schule zu schaffen. Dabei setzten wir auf die Schaffung monofunktionaler Lernräume. Anstatt Räume festen Lerngruppen zuzuordnen („Klasse“), wurde den verschiedenen Räumen eine feste Lernform zugewiesen.
Um Schüler*innen eine ruhige und angenehme Arbeitsumgebung für die Einzelarbeit an Lerninhalten bieten zu können, wurden sogenannte „Lernbüros“ eingerichtet. In den Lernbüros haben alle Schüler*innen einen eigenen, individuellen und ruhigen Arbeitsplatz, den sie nach ihren Vorlieben gestalten und nutzen können. Hierfür wurden die Lernbüros entsprechend mit Einzeltischen bestückt. Zudem hat jedes Kind ein eigenes Fach, wo es die eigenen Materialien ablegen kann. Die Regeln für die Lernbüros sind dabei klar kommuniziert und werden strikt eingefordert. So findet in den Lernbüros lausschließlich Einzelarbeit statt, Reden ist lediglich mit Lehrkräften im Flüsterton erlaubt.

Den Gegenpart zu den Lernbüros stellen die sogenannten „Gruppenarbeitsräume“ dar. Die verschiedenen Gruppenarbeitsräume wurden dabei den Hauptfächern Deutsch, Englisch und Mathe zugeordnet und entsprechend der Fachlogik eingerichtet. Im Gegensatz zu den Lernbüros sehen die Gruppenräumen explizit vor, dass Schüler*innen dort gemeinsam an Projekten arbeiten und sich untereinander austauschen und unterstützen. Die Gruppenarbeitsräume wurden dabei mit unterschiedlichen Steh- und Sitzmöglichkeiten ausgestattet (Stehtische, Sitzkissen, Akustiksofas, …), um für die Schüler*innen ein möglichst kreatives und anregendes Arbeitsambiente zu schaffen.

Differenziertes Schulmaterial an der EKS

Der uns allen bekannte, klassische Schulunterricht erfolgt im Gleichschritt. Gleichaltrige Kinder werden in eine Schulklasse gesteckt und ohne Rücksicht auf ihre Fähigkeiten, Stärken und Interessen mit denselben Lerninhalten „belehrt“. Dabei verwundert es kaum, dass die meisten Kinder unterfordert oder überfordert werden und nur die wenigsten Kinder eine optimale Förderung erhalten.
Im Einklang mit der empirischen Bildungsforschung und auf Basis der Idee des Konstruktivismus löst unser Konzept das Prinzip des Unterrichts im Gleichschritt auf. Anstatt durch die Lehrkraft vorgegeben zu bekommen, was sie heute lernen sollen, dürfen Schüler*innen sich in den Hauptfächern täglich neue Lernziele setzen und frei zwischen der Bearbeitung verschiedener, unterschiedlich anspruchsvoller Lernpläne wählen. Die Autonomieerfahrung, die Schüler*innen damit ermöglicht wird, führt zu einer spürbar höheren intrinsischen Motivation und damit auch zu nachhaltigerem Lernen und mehr Selbstständigkeit.
Die Entwicklung der Lernpläne stellt eine große Herausforderung dar und nimmt eine zentrale Position im Unterrichtsentwicklungsprozess unserer Schule ein. Damit die Schüler*innen frei und in ihrem Tempo arbeiten können und nicht durch uns aufgehalten werden, wurden alle Themen der Hauptfächer Deutsch, Englisch und Mathematik dreifach differenziert vorbereitet. Die Differenzierung orientiert sich dabei an den Hessischen Kerncurricula der verschiedenen Schulformen (Hauptschule, Realschule, Gymnasium).
Trotz (oder eben aufgrund) der Wahlfreiheit der Schüler*innen stellen wir Lehrkräfte jederzeit sicher, dass alle Schüler*innen die notwendigen Grundfertigkeiten in allen Schulfächern erlangen. Darüber hinaus bleibt es den Schüler*innen aber freigestellt, sich eigene Schwerpunkte nach ihren Interessen und Begabungen zu setzen.

Die Projekte

Die Fächer Gesellschaftslehre (Geschichte, Politik, Erdkunde), Naturwissenschaften, Kunst und Musik werden entgegen der klassischen Praxis vierstündig in Projektform unterrichtet. Dabei stehen vor allem das praktische Tun im Sinne eines handlungsorientierten Unterrichts und die Themen Nachhaltigkeit, Partizipation und Selbstverwirklichung im Vordergrund. Die längere Unterrichtszeit von vier Stunden am Stück ermöglicht es, außerschulische Lernorte besser in den Unterricht einzubinden. So bietet sich z.B. die Möglichkeit, den Gesellschaftslehre-Unterricht zum Entdecken des Quartiers zu nutzen oder gleich im Museum stattfinden zu lassen. Die Naturwissenschaften finden derweil die Zeit, Gewässer zu untersuchen oder den Unterricht gleich in den Wald zu verlegen.

Digitalisierung und Digitalität

Es ist selbstredend, dass sich ein zeitgemäßes Lernkonzept auch mit den Folgen der Digitalisierung auseinandersetzen muss. Hierbei gilt es jedoch zwischen der technischen Perspektive (Digitalisierung) und der damit einhergehenden kulturellen Veränderung (Digitalität) zu unterscheiden.
Offene Lernkonzepte sind nicht neu und erfreuten sich gerade in der Reformpädagogik großer Beliebtheit. Dem entgegen stand jedoch der enorme Aufwand, den solche Lernformen mit sich bringen. Die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung haben hier einiges vereinfacht. Das selbstständige Erarbeiten von Lerninhalten geht mit hybriden Lernplänen (Erklärvideos, digitale Übungsaufgaben, kollaborative Arbeitstools, digitale Reflexionstools) sehr viel leichter von der Hand, asynchrones Lernen an verschiedenen Orten ist einfacher zu organisieren. Zudem können durch intelligente, kreative Lernprodukte Leistungen valider gemessen und Lernentwicklungen besser diagnostiziert werden. Dieser Logik folgend stellen wir allen Schüler*innen der Erich Kästner-Schule gegen eine geringe Leihgebühr Tablets zur Verfügung, so dass jedes Kind mit einem eigenen Tablet arbeiten und (unterstützt durch die Lehrkräfte) den sinnvollen und verantwortungsbewussten Umgang mit solch einem Gerät lernen kann.
Neben diesen technischen Vereinfachungen spielt aber auch die Lebensrealität der Lernenden eine große Rolle. Unsere Jugend wächst in einer Kultur der Digitalität heran. Diese ist divers, komplex und kaum überschaubar. In dieser Welt, die sich durch Kontrollverslust auszeichnet, brauchen Menschen eine hohe Selbst- und Lernkompetenz, um sich weiterhin zurechtfinden und an zukünftiger Gesellschaft teilhaben zu können. Entsprechend ist es uns ein großes Anliegen, die Selbstständigkeit unserer Schüler*innen zu fördern und sie frei nach dem Zitat „Lernen ist der Beruf der Zukunft“ (Andreas Schleicher, OECD) als sehr gute Lerner aus unserem System zu entlassen. Statt einfaches Wissen abrufen zu müssen, werden Menschen in der Zukunft immer mehr komplexe Prozesse verstehen und sich selbstständig auf veränderte Lebens- und Arbeitsbedingungen einlassen müssen. Hierbei werden die sogenannten 21st Century Skills eine immer größere Bedeutung erlangen. Dieser Logik folgend, möchten wir unsere Schüler*innen mit unserem Konzept nicht auf die nächste Prüfung oder den nächsten Abschluss vorbereiten, sondern auf ihr Leben nach der Schule.